"Ich hatte auf einen Schlag alles verloren..."

Bei diesem Bild handelt es sich um ein Beispielbild, da die Nutzerin dahingehend gerne anonym bleiben möchte.
Geschichten aus der Community

Geschichten aus der Community

Anonyme Nutzerin für Menschen von Helpcity

Die Abgeschiedenheit ist ein leiser Sturm, der all unsere toten Äste abreißt. Zugleich jedoch treibt er unsere lebendigen Wurzeln immer tiefer ins lebendige Herz der lebendigen Erde.

Vom abhängigen zum freien Menschen

Wie ein Schlag ins Gesicht!

Die Erkenntnis traf mich mit einer solchen Wucht, dass ich zunächst nicht einmal weinen konnte. Ich hatte auf einen Schlag alles verloren und lag nun verstört in einem Vierbettzimmer der örtlichen Nervenheilanstalt. Vom Freund gerade verlassen, Familie und Freunde waren auch weg…

Wie kam es dazu?

Sechs Monate zuvor, im heißen Sommer 2017 saß ich in meiner winzigen Dachgeschosswohnung und schwitzte vor mich hin.

Ich war 37, seit Geburt im Glauben der Religionsgemeinschaft aufgezogen worden und war noch nie so aufgeregt in meinem Leben.

Meine Finger zitterten über dem Handydisplay, war ich doch kurz davor diese eine schwere Sünde zu begehen! Ich erkannte damals noch nicht, dass diese Angst völlig grundlos war.

Ich starrte einen digitalen Download des Buches eines ehemaligen Führungsmitglieds der Religionsgemeinschaft an. Und jede einzelne Seite machte es immer klarer! All das, an was ich noch halbwegs geglaubt hatte, brach wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Es kommt mir im nach hinein echt komisch vor, dass ich nicht viel früher aus der Indoktrination aufgewacht bin.

Das was ich hier las, war doch tatsächlich der Beweis. Was mir vom Säuglingsalter an eingetrichtert wurde und als die einzig richtige Lehre bezeichnet wird, stimmte hinten und vorne nicht! Ich hatte schon so lange gegen meine Zweifel gekämpft. Dinge, die mir unlogisch oder verdreht vorkamen!

Im selben Moment bekam ich große Angst! Was ich da gerade tat war eine schwere Sünde, denn sich mit Informationen von Ausgetretenen zu beschäftigen, war richtig schlimm. Es bedeutete, dass ich an Gottes nahem Gerichtstag in jedem Fall sterben würde. Die Religionsgemeinschaft hat die Lehre, dass Gott bald Vernichtung über alle bringt, die keine Sektenangehörigen sind (außer sie hatten keine Chance, sich zu entscheiden). Nicht nur vor Gott selbst hatte ich gesündigt, sondern auch vor seiner irdischen Vertretung, den geistlichen Führern. Warum ich so dachte?

Die selbsternannte Führungsriege, stellt für die Gläubigen die direkte Verbindung zu Gott dar. Die Anweisungen dieser Männer müssen unbedingt befolgt werden, schließlich kommen sie ja direkt von Gott.

Wer das in Frage stellt, läuft Gefahr von Gott in seinem unmittelbar bevorstehenden Gericht vernichtet zu werden.

Es wird den Schäfchen immer wieder eingetrichtert:

  • Keine engere Freundschaft mit Außenstehenden!
  • Kein Kontakt zu Ausgetretenen!
  • Bloß keinen kritischen Gedanken aufkommen lassen!
  • Schon gar nicht von außerhalb der Blase, z.B. Informationen über Bücher oder Beiträge in den Medien konsumieren, denn das alles kommt ja vom Bösen.

Wer anfing Fragen zu stellen, der wurde von den anderen konsequent ausgegrenzt.

Mittlerweile ist klar, warum das so ist: Die Ausgetretenen wissen Bescheid.

Mir wurde immer bewusster, dass ich jetzt ein riesiges Problem hatte. Mein komplettes soziales Umfeld, incl. meiner Familie bestand ausschließlich aus Mitgliedern der Sekte. Und ich würde sie alle verlieren, wenn ich dieser Lehre nicht mehr folge. Es würde meinen sozialen Tod bedeuten!

An dem Tag betrank ich mich heftig, wenn ich ehrlich bin…

Ich versuchte noch einige Wochen eine gute Tochter, Freundin und Gläubige zu sein, aber ich hatte Blut geleckt! Begann zu recherchieren, zu hinterfragen, eckte in meinem Umfeld immer mehr an. Die Blicke der anderen veränderten sich, ich wurde immer mehr zum Außenseiter.

Glaub mir, ich weiß, wie sich Einsamkeit anfühlt! Was sollte ich tun? Wohin jetzt?

Über ein Datingportal lernte ich schließlich einen interessanten Mann kennen und wir trafen uns heimlich. Er war anfangs sehr liebevoll und ich war total verliebt.

Leider bekam ich bald heftige Schuldgefühle und weinte oft. Ich hatte nicht nur Angst aus der Gemeinde zu fliegen und alle zu verlieren, die ich liebte. Nein, ich hatte auch furchtbar Angst, dass ich Gott gegen mich hatte. (Klingt seltsam, so zu denken, ich weiß!)

Irgendwann wurde meinem Freund das Ganze wohl zu anstrengend und er fuhr mich in die Nerven-Klinik und beendete dort die Beziehung.

Da saß ich nun. Total verzweifelt, völlig allein, in der Psychiatrie und hatte nur noch mich selbst. Und die Angst vor dem nahenden Gericht Gottes, denn ich war ja nun eine Frau, die schwer gesündigt hatte. Bei der Glaubensgemeinschaft ist es eine schwere Sünde unverheiratet zusammenzuleben.

Was folgte, war eine furchtbare Zeit, aber es sollte bald etwas Neues in mein Leben treten.

Mein Weg führte mich in die immer wiederkehrende Situation, dass ich in toxisch-abhängige Beziehungen schlitterte.

Ich ließ es zu, schlecht behandelt zu werden, um nicht allein sein zu müssen. Mit der  unausweichlichen Trennung, wenn ich es nicht mehr aushielt oder er es beendete, kam wieder die tödliche Einsamkeit. Und so weiter…

Ich ließ mich jedes Mal so schlecht behandeln, dass ich es fast nicht mehr ertragen konnte. Wo waren meine Standards geblieben?

Alles um bloß nicht mit mir und meinen inneren Schmerzen allein sein zu müssen.

Um all das zu ertragen, betäubte ich mich mit Drogen und Alkohol.

Ich geriet in immer schlechtere Gesellschaft und flog wie Ikarus zu hoch und zu nah an der Sonne. Verbrannte meine Flügel und stürzte tief. Ich zerschoss mir meine Skala vom Glück. Das mit den Substanzen funktionierte immer nur für kurze Zeit, dann war da nur noch Leere irgendwann…

Durch meine Einsamkeit und Bedürftigkeit wurde ich von Menschen ziemlich ausgenutzt. Aber letztendlich nur, weil ich es zuließ und mich nicht davor schützte!

Irgendwann habe ich jedem Menschen nur noch misstraut und bekam schwere Depressionen. Um diese Gefühle zu betäuben, nahm ich mehr Drogen und auch Medikamente.

Es brauchte zwei Jahre, mehrere Entzüge und Hilfe von lieben Mitmenschen bis ich clean und trocken war. Ich hätte es ohne diese Menschen nicht geschafft, ihnen bin ich so dankbar und möchte nun anderen beistehen.

Es kam etwas Neues in mein Leben, nämlich mein Mentor und Coach. Er arbeitet unter anderem auch auf Grundlage der Schema-Therapie. Die kannte ich zuvor schon aus einem Klinikaufenthalt in Mainz.

Wir alle haben verschiedene innerliche Anteile in uns, die einen Einfluss auf unsere Wahrnehmung und Entscheidung haben. Zum Beispiel den erwachsenen Anteil, den Antreiber, das verletzte Kind, den inneren Kritiker, den ängstlichen Vermeider usw.

Ich entdeckte, dass ich meine inneren Anteile managen musste und dass der erwachsene Anteil immer den Überblick behalten sollte. Das verletzte Kind in mir, das sich doch nur nach Geborgenheit und echter Liebe sehnte und deshalb immer wieder zuließ, dass es benutzt wurde. Oder der Kritiker, der dafür sorgte, dass ich mir selbst schadete oder mich selbst verletzte.

Ich konnte die innere Geborgenheit und die Liebe nicht bei anderen Menschen suchen, sondern musste mir selbst mehr Halt geben. Das ging nur durch sehr viel Recherche über die psychologischen Zusammenhänge und Reflektion mit Coaches und Freunden. Wichtig war allerdings auch der Austausch mit anderen Betroffenen, die schon weiter waren als ich.

Daher finde ich das Konzept von helpcity auch so gut, hier bündelt sich die Hilfe, Betroffene, Coaches, Mentoren, Wissen, Austausch!

Mein Fazit bis hier:

Wer seine inneren Anteile vom erwachsenen Anteil managen lässt und sich selbst Halt gibt, verbessert seinen Selbstwert. Und dass bestimmt, wie andere mit uns umgehen können.

Unsere Psyche braucht unseren Respekt, nicht nur die Bestätigung von außen! Erst wenn du dich selbst annimmst und gut zu dir sein kannst, bist du bereit zu lieben und zu leben.

Nicht das kurzfristige Hochgefühl, sondern innere Zufriedenheit und Stabilität machen dauerhaft glücklich.

Seit ich es nicht mehr dulde, dass ich schlecht behandelt werde oder mir selbst schade, wird es immer besser. Ich konnte mir ein normales Selbstwertgefühl aufbauen und so mein Beuteschema von toxisch-aggressiv-dominant hin zu liebevoll-männlich-stoisch 😉 verändern! Es geht!

Heute bin ich in einer glücklichen Beziehung und habe ein liebevolles Umfeld.

GLÜCK IST EINE ENTSCHEIDUNG!

Ich habe so viel verloren, aber gefunden habe ich

echte Freundschaften und vor allem Liebe und Respekt, auch mir selbst gegenüber!

Zu wissen, dass andere Betroffene mit ihren Ängsten und Sorgen nicht allein sind, kann sehr hilfreich sein. Deswegen möchten wir dich und deine Geschichte vorstellen. Warst du schon mal in einer schwierigen Situation? Was oder wer hat dir geholfen?

Du magst das vielleicht nicht glauben, aber deine Geschichte könnte für andere Gold wert sein – sie könnte einen Wendepunkt in ihrem Leben darstellen.

Schreib uns dafür doch eine kurze E-Mail an kontakt@helpcity.de. Gerne teilen wir deine Story mit den anderen Usern. Ob als Social Media Beitrag, auf der Pinnwand oder auf unserem Helpcity Blog – das darfst du entscheiden. Die Veröffentlichung kann natürlich komplett anonym erfolgen.

Wir freuen uns auf deine Nachricht!

Brauchst du jemanden zum reden?

Finde jetzt den passenden Austausch für dich.
Helpcity, das soziale Netzwerk für digitale Selbsthilfe.

Das könnte dich auch interessieren:

Klinische- und Gesundheitspsychologin Tanja Ladstätter im Interview mit Helpcity

Ich liebe meinen Beruf, weil ich Einblick in unterschiedlichste Lebensweisen bekomme und dadurch selbst einen viel offeneren Blick auf das Leben behalten kann. Sichtweisen, Verhaltensweisen und Möglichkeiten sein Leben zu gestalten, gibt es in so vielen Varianten wie es Menschen gibt. Daher sind auch die „Lösungswege“ für jeden einzelnen so individuell wie er selbst.

Mehr »